Vermischtes

Storme deLarverie - Feier des Nonkonformismus

Ursprung des Christopher Street Days


Stormé DeLarverie (Quelle: Antony Zito)
Christopher Street Day
(Quelle: Mario Graß)
GDN - Wenn an den kommenden Wochenenden in deutschen und europäischen Städten Hunderttausende auf die Straße gehen, um für die Rechte von Homosexuellen und Transsexuellen zu demonstrieren, wird damit an ein Ereignis erinnert, das mit einer bemerkenswerten Person verbunden ist: Stormé DeLarverie.
Stormé DeLarverie ist, obgleich sie das Leben von Millionen nachhaltig verändert hat und in entsprechenden Kreisen respektvoll “King Stormé“ genannt wird, nur wenigen Menschen ein Begriff. Vor nunmehr fast 50 Jahren hat sie durch ihr couragiertes Verhalten einen Umschwung hinsichtlich des Selbstbewusstseins der LGBTQ-Gemeinschaft (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender and Queer) bewirkt, als am “Stonewall Inn“, einer Szenekneipe in der Christopher Street in New York, die weltweite Forderung nach Gleichberechtigung der Schwulen und Lesben ihren Ausgang nahm.
Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war die juristische und gesellschaftliche Diskriminierung Homosexueller noch weitaus ausgeprägter, als dieses heute der Fall ist. Homosexualität wurde als abnorme Abart der menschlichen Sexualität betrachtet und durfte nicht öffentlich zur Schau gestellt werden. Ebenso war das sogenannte Cross-Dressing illegal und es drohte die Verhaftung, wurde nicht eine bestimmte Anzahl "geschlechtsgerechter" Kleidungsstücke getragen.
Stonewall Inn
Quelle: Mario Graß
Das Stonewall Inn bot zu jener Zeit Schwulen und Lesben die Möglichkeit, sich allabendlich zu treffen, um zumindest dort unbehelligt feiern, trinken und tanzen zu können. Diese gelöste Stimmung wurde jedoch wiederholt durch Polizeirazzien gestört, in deren Verlauf die Identität der Besucher, die oftmals heftige Beleidigungen seitens der Ordnungshüter über sich ergehen lassen mussten, festgestellt wurde. Es kam zu Anklagen wegen anstößigen Verhaltens und zuweilen wurden die Namen von Gästen öffentlich gemacht, mit verheerenden sozialen Folgen für die Betroffenen.
In der Nacht des 28. Juni 1969 kam es gegen 1:20 Uhr erneut zu solch einer Razzia. Das Stronewall Inn war zu dem Zeitpunkt mit etwa 200 Besuchern geradezu überfüllt, da am selbem Tag Judy Garland beerdigt wurde und dieses Ereignis viele Homosexuelle, Transvestiten und Drag Queens in die Stadt lockte. Wieder und wieder dröhnte Garlands berühmtester Song “Over the Rainbow“ aus den Boxen. “Somewhere over the rainbow, skies are blue and the dreams that you dare to dream really do come true“, verheißt der Song. Beim Begräbnis am Nachmittag trugen bereits einige Trauernde Regenbogenfahnen als Anspielung auf dieses Lied. Die Regenbogenfahne wurde später zu einem internationalen schwul-lesbischen Symbol.
In dieser Nacht rückte das versprochene Land “an dem alles besser und gerechter ist“ jedoch in weite Ferne, als acht Beamte des Ersten Bezirks, von denen nur einer eine Uniform trug, bewaffnet mit Schlagstöcken das Lokal stürmten, um zahlreiche weiblich erscheinende Männer zu ergreifen, mit Schlägen zu traktierten und zu verhaften. Der Folk-Sänger Dave Van Ronk, der zufällig die Bar passierte, wurde ebenfalls von den Polizisten ergriffen und mit Schlagstöcken misshandelt.
Stormé DeLarverie war an jenem Abend anwesend und erinnert sich: “Die Bullen haben gegen zwei Uhr morgens Gäste aus der Eingangstür von The Stonewall gezerrt. Ich habe gesehen, wie dieser eine Junge von drei Polizisten herausgeholt wurde, nur einer in Uniform. Drei zu eins! [“¦] Sie packten seine Jacke und zogen ihn runter auf den Boden. Einer von ihnen trat ihn. Ein weiterer Polizist schlug ihn grundlos von hinten. Ich rief den anderen zu: `Warum tut ihr nichts?!` Gleich darauf brüllte mich ein Polizist an: 'Komm schon, Tunte`. Ich hielt ihm entgegen: 'Wag es nicht, mich anzufassen.' Der Polizist schubste mich und ich schlug ihn instinktiv ins Gesicht. Er blutete! Er ist auf den Boden gefallen - nicht ich!“
Ein Handgemenge brach aus, in dessen Verlauf die von der Gegenwehr überraschten Polizisten in die Defensive gerieten, sich in ein Hinterzimmer der Bar zurückzogen und Verstärkung anforderten. Draußen entwickelten sich derweil wilde Schlägereien, die sich auf die umliegenden Straßen ausweiteten und bei denen viele zum Teil unbeteiligte Passanten von den herbeigerufenen Polizisten schwer misshandelt wurden. Der Widerstand konnte dennoch nicht gebrochen werden, woraufhin die Polizei ihre Truppen auf etwa 400 Mann verstärkte, jedoch feststellen musste, dass die Ereignisse zu einer breiten Solidarisierung der Bevölkerung mit den Gästen des Stonewall Inn geführt hatte und deren Zahl mittlerweile auf knapp 2000 angewachsen war.
Die Polizei entsandte ihrerseits weitere Verstärkung in Form der Tactical Patrol Force, einer Spezialeinheit, die ursprünglich ins Leben gerufen wurde, um sich Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg entgegenzustellen. Die Tactical Patrol Force versuchte sogleich die Menge zu zerstreuen. Doch diese leistete leidenschaftlichen Widerstand gegen die Polizeiwillkür und skandierte lautstark: “Gay Power!“. Letztendlich beruhigte sich die Lage vorübergehend, doch die Protestierenden kehrten in den kommenden Nächten zurück. Aufgestauter Zorn und Empörung gegen die Art, wie Homosexuelle seit Jahrzehnten von der Polizei behandelt worden waren, entluden sich.
Die Straßenschlachten zogen sich mehrere Tage hin, bis der damalige Bürgermeister John Lindsay die Polizei abrücken ließ. Die Rufe “Gay Pride“ oder “Gay Power“ hallten noch nächtelang durch die Gassen und gänzlich verstummen sollten sie nie wieder. Die Ereignisse werden bis heute als Wendepunkt im Kampf der Homosexuellen um Gleichberechtigung und Anerkennung angesehen, denn zum ersten Mal hatte sich ihre Gemeinschaft gegen die herrschende Polizeiwillkür gewehrt - und das mit großem Erfolg. Dieser Akt zeigte Wirkung, die bis in die heutige Zeit anhält.
Man war es leid, sich heimlich im Verborgenen zu treffen, sondern wollte sich fortan stolz und offen zeigen und für seine Rechte eintreten. Die Kräfte, die lange Zeit unter der Oberfläche gebrodelt hatten, blieben nun nicht länger verborgen. Im Juli des gleichen Jahres formierte sich die Gay Liberation Front (GLF) in New York, die bereits Ende des Jahres mit vielen lokalen Gruppen in zahlreichen Städten und an Universitäten des Landes vertreten waren und schon bald darauf gründeten sich weltweit vergleichbare Organisationen.
Zum Jahrestag des Aufstandes fand der erste Gay Pride-Umzug in New York statt, der etwa 10.000 Menschen von der Christopher Street zum Central Park führte und der seitdem zu einem regelmäßigen Ereignis im Veranstaltungskalender der Stadt geworden ist. Hieraus erwuchs rasch eine internationale Tradition, sodass auch in deutschen Städten im Sommer Paraden und Demonstrationen für die Rechte von Schwulen, Lesben und anderen sexuellen Minderheiten abgehalten werden, die hier - in Erinnerung an die Nächte im Greenwich Village - “Christopher Street Day“ genannt werden.
Jahrzehntelang führte Stormé DeLarverie die alljährliche “New York City Gay Pride Parade“ an und erwarb sich aufgrund ihres mutigen und renitenten Verhaltens, das den Aufstand letztlich ausgelöst hatte, den Spitznamen "King Stormé". Bis ins hohe Alter wurde sie häufig als Rednerin eingeladen, um bei verschiedenen Anlässen an die Nächte im Juni 1969 zu erinnern und sie aus Sicht der Beteiligten zu schildern. Stormé war es sehr wichtig herauszustellen, um was es sich im Kern bei den Vorgängen gehandelt hat.
Stormé DeLarverie
Quelle: Stefanie Moritz
“Es war eine Rebellion, es war ein Aufstand, es war ziviler Ungehorsam ... es war kein verdammter Krawall“, stellte sie widerholt klar und versuchte den Bogen weiter zu spannen, als dieses gewöhnlich in der Wahrnehmung der damaligen Ereignisse getan wird. “Es war egal, ob du Mann, Frau, homosexuell oder heterosexuell bist. Es ging darum, dass jeder seiner Identität entsprechend leben kann und dass niemand ihm dieses Recht nehmen darf.“
Jahrzehnte später von einer jungen Journalistin auf ihre damalige, führende Rolle angesprochen, erinnerte sie sich an wohlmeinende Warnungen. “Man wird dich von hinten erdolchen, man wird dich schlagen oder erschießen ...“, um nach einer längeren Pause, in der sie ihre Gedanken schweifen ließ, verschmitzt hinzuzufügen: “Aber Schätzchen ... Sie sind alle tot und ich bin immer noch hier.“
Stormés Geburtstag wurde jährlich mit einem großen Festdinner im Kreise ihrer damaligen Weggefährten feierlich begangen, wobei sich Stormé selbst wenig Gedanken um ihr Alter machte. “Alter ist nur eine Zahl... wenn es dich nicht stört, spielt´s auch keine Rolle“. Auch um ihre Rolle, die sie 1969 am Stonewall Inn spielte, machte sie zeitlebens ebenso wenig Aufhebens wie um ihr späteres soziales Engagement sowie ihre außerordentliche Hilfsbereitschaft und Solidarität gegenüber Außenseitern.
Erst sehr spät in ihrem Leben bekannte sie, was aufgrund von Augenzeugenberichten ohnehin kaum noch ein Geheimnis war: Sie war die Person, die 1969 die Rebellion am “Stonewall Inn“ ausgelöst hatte. Auf die Frage, warum sie dies niemals betont und auf die verdiente Anerkennung bestanden habe, antwortete sie lapidar: “Weil es niemanden etwas angeht.“
Stormé besaß eine staatliche Waffengenehmigung, durchstreifte noch als über Achtzigjährige die Siebte und Achte Avenue, um auf den Bürgersteigen vor einschlägigen Bars zu patrouillieren - stets auf der Pirsch nach etwas, was sie "Hässlichkeit" nannte, worunter sie jegliche Form von Intoleranz oder Missbrauch gegenüber ihren "babys", wie sie die LGBTQ-Gemeinschaft liebevoll mütterlich nannte, verstand. Zudem organisierte sie unermüdlich Unterstützung für misshandelte Frauen und Kinder.
Als sie gefragt wurde, warum sie sich trotz ihres hohen Alters noch immer dieser Aufgabe verschrieben habe, entgegnete sie: “Jemand muss sich darum kümmern. Es ist eigentlich ganz einfach. Wenn sich niemand um mich gekümmert hätte, als ich aufwuchs, mit meiner schwarzen Mutter, tief im von Rassismus geprägten Süden, wäre ich heute nicht hier."
Geboren wurde die Kreolin, als Tochter einer afroamerikanischen Mutter und eines weißen Vaters, am Heiligabend des Jahres 1920 in New Orleans. Zu jener Zeit herrschte in den konservativen Südstaaten noch eine strikte Rassentrennung, weshalb sie seit jeher mit Anfeindungen leben musste und aufgrund ihrer leicht dunklen Hautfarbe als Kind auf der Straße mit Steinen beworfen wurde. In einem Interview erinnerte sich Stormé an ihre Kindheit: “Honey, wenn Du so aufgewachsen bist wie ich, musstest Du deine Umgebung immer genau im Blick haben. Die weißen Kids haben mich gejagt, die schwarzen Kids haben mich gejagt, alle haben mich gejagt“¦ bis ich aufgehört habe wegzulaufen.“
In den fünfziger Jahren machte sich Stormé einen Namen, indem sie als Mann gekleidet auf der Bühne stand und mit der legendären “Jewel Box Revue“, einer Travestiegruppe, durch die USA, Kanada und Mexiko tourte. Das Ensemble bestand aus 24 Männern, die allesamt als schöne, verführerische Frauen gekleidet waren und Stormé, die als einzige biologische Frau der Gruppe als vornehmer Gentleman auftrat - eine Rolle, die sie zunehmend auch privat einnahm.
Die Idee einer Travestieshow war damals einzigartig, weshalb die Gruppe reichlich - positive wie negative - Publicity erhielt und Stormé als eine Wegbereiterin dieser speziellen Showsparte gilt. Ihrer Zeit weit voraus, belästigt durch Polizeirazzien und in manchen US-Staaten die Grenzen der damaligen Legalität durchbrechend, gewann die Gruppe zunehmend mehr Fans, darunter auch Sammy Davis Junior, der die Shows wiederholt besuchte. Nachdem sich die “Jewel Box“, der Stormé 14 Jahre angehörte, 1968 auflöste zog sie nach Manhattan, wo es nur ein Jahr später zu der “Stonewall-Rebellion“ kam.
Stormé DeLarverie sah Parallelen zwischen dem Kampf gegen Rassismus sowie gegen Homophobie: “Stonewall war die Kehrseite der schwarzen Revolte, als Rosa Parks [US-amerikanische Bürgerrechtlerin; Anm. d. Verf.] Stellung bezog. Endlich bezogen die Leute Stellung. Die Polizei bekam den Schock ihres Lebens, als wir aus der Bar kamen, unsere Perücken abzogen und ihnen offensiv entgegentraten. Ich wusste immer, dass dies einmal geschehen würde - früher oder später. Man hat diese Leute einmal zu oft zur Seite gestoßen."
Vor einigen Jahren wurde Stormé entkräftet und dehydriert in ihrer Wohnung im siebten Stock des Chelsea Hotels aufgefunden und umgehend in das St. Vincent's Hospital in der West 12th Street eingeliefert. Dort hatte sie sich nach einigen Tagen wieder soweit erholt, dass sie Freunden bei vollem Bewusstsein, schlagfertig wie gewohnt erschien und sicher davon ausging, bald wieder nach Hause zurückzukehren. “Natürlich werde ich wieder dort wohnen. Ich bin seit 31 Jahren dort. Das ist mein Zuhause.“ Doch der nächste Weg führte sie nicht zurück in das zur Heimat gewordene Chelsea Hotel, sondern in ein Pflegeheim in Brooklyn.
Dort ist sie vier Jahre später am frühen Morgen des 24. Mai 2014, als sie im Schlaf einen Herzinfarkt erlitt, verstorben. Obwohl sie in ihren späteren Jahren unter Demenz litt und nicht erkannte, dass sie in einem Pflegeheim lebte, blieben die Erinnerungen an ihre Kindheit in New Orleans, den Stonewall-Aufstand sowie ihren Kampf für die Rechte der LGBTQ-Gemeinschaft ungetrübt präsent.
Stormé forderte mit Worten, Taten sowie ihrer persönlichen Lebensgestaltung, dass alle Menschen in ihrer Einzigartigkeit zu respektieren sind und unter dem gleichen Schutz des Gesetzes stehen. Sie hat vor nunmehr fast 40 Jahren Stellung bezogen und damit andere ermutigt, es ihr gleichzutun und diese Forderungen aufrechtzuerhalten. Einer ihrer denkwürdigsten und schönsten Aussprüche, der einer Quintessenz ihres Lebens gleichkommt, lautet: “Nonkonformismus sollte man nicht fürchten, sondern feiern!“
Am Tag der Gay Pride Parade im Juni 2010 erhielt Stormé im Pflegeheim Besuch von einer Journalistin der New York Times. Angesprochen auf den Umzug, begann sie, lediglich mit einem Pyjama bekleidet, ihre Schuhe zu suchen, um wie gewohnt teilzunehmen. Der Reporterin gelang es, die bereits von Demenz gezeichnete Stormé von diesem Gedanken abzubringen. Doch im weiteren Verlauf des Gespräches kam Stormé wiederholt unvermittelt auf die Parade zu sprechen und fragte sich, ob ihre “babys“ bereits unterwegs seien. Irgendwann schüttelte sie resigniert den Kopf und murmelte: “Sie werden sich fragen, wo ich bleibe“¦“
Wenn in den kommenden Wochen Hundertausende auf die Straßen gehen, um den Christopher Street Day zu feiern, werden leider nur Wenige an Stormé DeLarverie denken. Ihre Botschaft ist jedoch nach wie vor unmissverständlich und richtig. Zum Abschluss des Interviews bat sie die New York Times-Reporterin, denjenigen, die an der Parade teilgenommen haben, etwas auszurichten: “Seid einfach ihr selbst, wie ihr es immer wart. Ihr müsst euch nicht verstecken. Seid wie ihr seid."

weitere Informationen: https://blog.mariograss.de/stormedelaverie/

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